SONN Patentanwälte – IP Attorneys

Ermessen der Einspruchsabteilung bei der Wahl des nächstliegenden Standes der Technik

Es ist nicht möglich, ganz allgemein festzulegen, wie viele Ausgangspunkte eine Einspruchsabteilung bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit als fiktiven nächstliegenden Stand der Technik im „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ zu berücksichtigen hat. Die Antwort auf diese Frage hängt von Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere, welche Unterscheidungsmerkmale die verschiedenen vorgeschlagenen Ausgangspunkte aufweisen. Es ist jedoch klar, dass in der Praxis nur eine beschränkte Zahl von Angriffslinien geprüft werden kann. Deshalb ist eine Einsprechende dazu angehalten, aus der Vielzahl von möglichen Ausgangspunkten diejenigen auszuwählen, die ihrer Auffassung nach die Patentfähigkeit der beanspruchten Gegenstände am klarsten in Frage stellen. Falls die Zahl der Angriffe ein vernünftiges Maß übersteigt, muss eine Einspruchsabteilung ein gewisses Ermessen haben, nicht oder klar weniger erfolgsversprechende Angriffslinien nicht zu berücksichtigen, damit das Verfahren nicht ausufert. Allerdings muss die Einspruchs­abteilung der Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung die Gelegenheit geben, sich zu einem Dokument als Ausgangspunkt für einen Angriff auf die erfinderische Tätigkeit zu äußern, wenn dieses Dokument noch in der mit der Ladung ergangenen vorläufigen Stellungnahme der Einspruchsabteilung als relevanter möglicher Ausgangspunkt für den „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ erörtert worden ist. Der Einsprechenden diese Gelegenheit zu verwehren, stellt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und somit einen schweren Verfahrensmangel dar (Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts 11.4.2022, T 2610/19).