UPC-Berufungsgericht: Auslegung im Einklang mit Artikel 69 EPÜ
Das Berufungsgericht hält fest, dass die Auslegung nach Art 69 EPÜ und des Auslegungsprotokolls erfolgt: Der Patentanspruch ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents nach Art 69 EPÜ in Verbindung mit dem Protokoll über die Auslegung von Art 69 EPÜ. Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an. Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden. Das bedeutet aber nicht, dass der Patentanspruch lediglich als Richtlinie dient und sich sein Gegenstand auch auf das erstreckt, was sich nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt. Der Patentanspruch ist aus Sicht der Fachperson auszulegen. Bei der Anwendung dieser Grundsätze soll ein angemessener Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbunden werden. Diese Grundsätze für die Auslegung eines Patentanspruchs gelten gleichermaßen für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines europäischen Patents.
Angewandt auf das Verfügungspatent kommt das Berufungsgericht zur folgenden Einschätzung.
Das Verfügungspatent betrifft ein Verfahren zur Detektion einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe. Das der Erfindung zugrundeliegende Problem ist darin zu sehen, optische Multiplexing-Methoden mit hohem Durchsatz zur Detektion von Zielmolekülen in einer Probe zu entwickeln. Entgegen dem Verständnis des Gerichts erster Instanz ist Anspruch 1 nicht zu entnehmen, dass die Nachweisreagenzien während des gesamten Nachweisverfahrens an die jeweiligen Analyten gebunden bleiben müssen.
Das Berufungsgericht stimmt zwar mit dem Erstgericht darin überein, dass die Nachweisreagenzien sicher an die jeweiligen Analyten binden müssen und, um dies zu ermöglichen, eine hinreichende Inkubationszeit der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von Nachweisreagenzien vorgesehen sein muss. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts schließt die Notwendigkeit einer hinreichenden Inkubationszeit aber nicht aus, dass die Decoderproben, nachdem sie eine sichere Bindung mit den jeweiligen Analyten eingegangen sind, zu einem späteren Zeitpunkt wieder entfernt werden und mit den gleichen Nachweisreagenzien wieder ersetzt werden können.
Auf Basis dieser Auslegung ist es nach Ansicht des Berufungsgerichts ─ entgegen der Ansicht des Erstgerichts ─ überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit dem Hauptantrag geltend gemachten Fassung als nicht patentfähig nach Art 52 Abs 1 EPÜ erweisen wird. Eines der angeführten Dokumente offenbart auf Basis dieser Auslegung nämlich bereits alle Merkmale des Patentanspruchs 1 mit Ausnahme des Merkmals, dass das Verfahren zum Nachweis einer Vielzahl von Analyten „in einer Zell- oder Gewebeprobe“ dienen soll. Für eine Fachperson, die sich zum Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents vor die Aufgabe gestellt sah, optische Multiplexing-Methoden mit hohem Durchsatz zur Detektion von Zielmolekülen in einer Probe zu entwickeln, war dieses Dokument von Interesse, da darin ein Verfahren zum Nachweis einer Vielzahl amplifizierter Einzelmoleküle (ASMs) durch Kodierung und Dekodierung der Einzelmoleküle offenbart wird, bei dem die Kodierung durch sondenvermittelte Erzeugung ringförmiger DNA und die Dekodierung durch zeitlich sequentielle Detektion der anvisierten ASMs erfolgt. Dass für die Fachperson zum Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents nach erfolgreicher Anwendung eines In-vitro-Multiplexverfahrens zur Detektion von ASMs als nächster Schritt die Übertragung des Verfahrens auf eine In-situ-Umgebung in Betracht kam, wird durch ein weiteres Dokument belegt. In dieser Druckschrift wird ein Verfahren zur Detektion nicht polyadenylierter RNA Moleküle unter Verwendung „eines neuen Sondenformats“ beschrieben, das zunächst in „einer kontrollierbaren Umgebung“ in vitro durchgeführt und nach erfolgreicher Durchführung auch in situ mit positivem Ergebnis erprobt wurde.
Demnach erachtet das Berufungsgericht es für überwiegend wahrscheinlich, dass das Verfügungspatent sich in einem Hauptsacheverfahren wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit als nicht patentierfähig erweisen wird. Es fehlt somit an einer ausreichend sicheren Grundlage für den Erlass einer einstweiligen Verfügung (UPC 26. 2. 2024, CoA 335/2023).