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Ist die Unterseite eines Fahrradsattels bei der bestimmungsgemäßen Verwendung sichtbar?

Auch Bauelemente komplexer Erzeugnisse sind dem Muster- bzw. Designschutz zugänglich, sofern sie bei der bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer sichtbar sind und die sichtbaren Merkmale die Erfordernisse der Neuheit und Eigenart erfüllen. In manchen Fällen kann jedoch unklar sein, was unter „bestimmungsgemäßer Verwendung“ zu verstehen ist und aus welcher Betrachterperspektive das Bauelement sichtbar sein muss, um die gesetzlichen Anforderungen für einen Muster- bzw. Designschutz zu erfüllen, wie das nebenstehende Bild eines BMX-Fahrers veranschaulichen soll. Reicht es beispielsweise aus, wenn ein außenstehender Betrachter das Design der Unterseite des Fahrradsattels während eines Sprunges mit einem Fahrrad erkennen kann?

Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens (C-472/21) hat der BGH deshalb den EuGH mit der Frage betraut, ob ein Bauelement (hier: die Unterseite eines Fahrradsattels) als Teil eines komplexen Erzeugnisses (hier: ein Fahrrad) bereits dann sichtbar im Sinne der EU-Richtlinie 98/71 und damit auch des deutschen Designgesetzes ist, wenn es objektiv möglich ist, das Design des Bauelements in einem eingebauten Zustand erkennen zu können, oder ob für die Sichtbarkeit bestimmte Nutzungsbedingungen und Betrachterperspektiven relevant sind. Der BGH hat den EuGH darüber hinaus gefragt, nach welchen Kriterien sich die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses beurteilt und ob der vom Hersteller des Bauelements bzw. des komplexen Erzeugnisses intendierte Verwendungszweck dabei eine Rolle spielt. Die genaue Formulierung der Fragen kann C-472/21 entnommen werden.

Die Antworten des EuGH in Kürze:

Nach Ansicht des EuGH komme es bei der Prüfung des „Sichtbarkeitserfordernisses“ auf die Situation der normalen Verwendung des komplexen Erzeugnisses an. Die Sichtbarkeit sei aus der Sicht des Endbenutzers, der das komplexe Erzeugnis bestimmungsgemäß benutzt, sowie aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei die bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

Was bedeutet das für den Fahrradsattel?

Unter Anwendung der Auslegung des EuGH müsste dies wohl bedeuten, dass die Unterseite eines Fahrradsattel das Sichtbarkeitserfordernis erfüllt, da beispielsweise der Transport des Fahrrads, bei dem dieses auf einen Anhänger oder in einen Kofferraum geladen wird, unter die bestimmungsgemäße Verwendung fällt und dabei die Unterseite des Sattels für außenstehende Beobachter sichtbar ist. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie dies der BGH sieht und entscheiden wird.

Die eingangs in Zusammenhang mit dem Bild des BMX-Fahrrades in den Raum gestellte Frage muss also gar nicht beantwortet werden. Eine hypothetische Antwort könnte aber wie folgt lauten: Wenn der Einsatz eines Bauteils bei mehreren komplexen Erzeugnissen möglich ist, müssen alle komplexen Erzeugnisse für die Beurteilung des Sichtbarkeitserfordernisses in Betracht gezogen werden. Ein Fahrradsattel kann natürlich nicht nur bei gewöhnlichen Stadträdern, sondern auch bei einem BMX-Rad eingesetzt werden. Bei BMX handelt es sich um eine Ende der 1960er Jahre in den USA entstandene Sportart, bei der Sportler auf einem speziellen Fahrrad mit 20-Zoll-Laufrädern verschiedene Tricks oder Stunts ausführen. Demnach zählt zur hauptsächlichen Verwendung eines BMX-Rades auch das Vorzeigen von Stunts, wie Wheelies und Sprünge, bei denen die Unterseite des Sattels für Beobachter sichtbar ist. Demnach müsste auch dies als Begründung für die Sichtbarkeit der Unterseite eines Sattels im Sinne der EU-Richtlinie 98/71 genügen. Der EuGH hat nämlich auch festgehalten, dass die Sichtbarkeit nicht zu jedem Zeitpunkt der Verwendung gegeben sein muss (siehe unten).

Rechtlicher Hintergrund:

Für Muster (österreichischer Rechtsbegriff) und Designs (deutscher Rechtsbegriff), die neu sind und Eigenart haben, kann (Geschmacks-)Muster- (§ 1 Abs 1 Ö-MuSchG, Art 4 Abs 1 GGV) bzw. Designschutz (§ 2 Abs 1 D-DesignG) erworben werden. 

Auch Bauelemente komplexer Erzeugnisse sind dem Muster- bzw. Designschutz zugänglich, unterliegen aber dem besonderen Erfordernis, dass Muster bzw. Designs, die bei einem komplexen Erzeugnis benutzt oder in dieses eingefügt werden, nur dann als neu und nur dann Eigenart haben, wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen (siehe § 2 Abs 4 Ö-MuSchG, § 4 D-DesignG, Art 4 GGV).

Bestimmungsgemäße Verwendung bedeutet die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur (siehe § 2 Abs 5 Ö-MuSchG, § 1 Z 4 D-DesignG, Art 4 Abs 3 GGV).

Ein komplexes Erzeugnis ist definitionsgemäß ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann (siehe § 1 Abs 4 Ö-MuSchG, § 1 Z 3 D-DesignG, Art 3 lit c GGV).

Im Ö-MuSchG und D-DesignG wurde die EU-Richtlinie 98/71 umgesetzt, die europäische Mindeststandards für Muster bzw. Designs festlegt.

Zur Vorgeschichte des vorliegenden Falls:

Im vorliegenden Verfahren wurde gegen das nebenstehend dargestellte Design eines Fahrradsattels beim Deutschen Patentamt (DPMA) die Feststellung der Nichtigkeit beantragt, da nach Ansicht der der Antragstellerin das Design – die Unterseite des Sattels – bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.

Das DPMA wies den Nichtigkeitsantrag mit der Begründung zurück, dass zur bestimmungsgemäßen Verwendung auch „ein nicht der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienendes Ab- und Aufmontieren des Sattels“ zähle, woraufhin die Nichtigkeitsantragsstellerin Beschwerde beim Bundespatentgericht einreichte.

Das Bundespatentgericht erklärte das Design für nichtig, da nur das Fahren mit dem Fahrrad sowie das Auf- und Absteigen als bestimmungsgemäße Verwendung anzusehen sei, hierbei aber die Sattelunterseite nicht sichtbar sei.

Fragen an den EuGH

Gegen diese Entscheidung legte die Inhaberin des Designs Rechtsbeschwerde beim BGH ein, der sich wiederum an den EuGH wandte und fragte (geringfügig verkürzt und vereinfacht):

  1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann „sichtbar“ im Sinne der EU-Richtlinie 98/71, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?
  2. Wenn die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist: 

    a. Kommt es für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne der EU-Richtlinie 98/71 auf den vom Hersteller des Bauelements oder des                   komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?

    b. Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer „bestimmungsgemäß“ ist?

Antworten des EuGH

Der EuGH behandelte die Fragen nicht getrennt voneinander. Nachfolgend haben wir die Antworten des EuGH „sortiert“.

Zunächst bestätigte der EuGH, dass der Sattel eines Fahrrads oder eines Motorrads ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist. 

Zu Frage 1:

Der EuGH führte aus, dass die Richtlinie 98/71 nicht verlangt, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleiben muss und dass auch die Sichtbarkeit eines solchen Bauelements für einen außenstehenden Beobachter zu berücksichtigen sei. Der EuGH hielt aber gleichzeitig fest, dass eine abstrakte Beurteilung des Sichtbarkeit ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung nicht genügt – damit scheint eine rein objektive Möglichkeit der Sichtbarkeit ausgeschlossen. 

Zu Frage 2a:

Hinsichtlich der Frage, ob der vom Hersteller intendierte Verwendungszweck bei der bestimmungsgemäßen Verwendung zu berücksichtigen ist, sei festzustellen, dass die Richtlinie 98/71 gemäß auf die „bestimmungsgemäße Verwendung“ des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellt. Der EuGH weist außerdem darauf hin, dass in der deutschen Sprachfassung zwar die „bestimmungsgemäße Verwendung“ genannt wird; in anderen Sprachfassung wird jedoch der Ausdruck „normaler/üblicher Gebrauch“ verwendet. Der normale Gebrauch durch den Endbenutzer decke sich in der Regel mit einer Verwendung gemäß der Bestimmung des komplexen Erzeugnisses, die dessen Hersteller oder Entwickler beabsichtigt hat. Der Unionsgesetzgeber wollte zudem auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellen, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen. Die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses im Sinne der Richtlinie 98/71 könne daher nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden. 

Der EuGH lässt dabei aber offen, ob, und wenn ja, wie eine Absicht des Herstellers mitberücksichtigt werden könnte. 

Zu Frage 2b:

Der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ sei nach Ansicht des EuGH weit auszulegen, weil der Ausdruck in der Richtlinie 98/71 nicht näher bestimmt wird. Der EuGH schließt sich im Wesentlichen den Schlussanträgen an. Dieser hatte ausgeführt, dass die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion oft verschiedene Handlungen erfordere, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis diese Hauptfunktion erfüllt hat. Dazu zählen etwa die Aufbewahrung oder der Transport des Erzeugnisses. Es sei daher davon auszugehen, dass die „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses alle diese Handlungen umfasse. Ausgenommen seien aber Handlungen, die mit der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen.