SONN Patentanwälte – IP Attorneys

Stand der Technik und Trennungsprinzip

Gemäß dem Deutschen Patentgesetz sind die Gerichte an die Erteilung des Patents durch das jeweilige Patentamt gebunden und müssen daher vom Rechtsbestand des Patents ausgehen. Infolgedessen können sie ein Patent nicht für nichtig erklären: Eine Klage auf Feststellung der Nichtverletzung kann nicht auf mangelnder Patentierbarkeit basieren. Eine Verteidigung gegen eine Verletzungsklage ist jedoch möglich, wenn eine äquivalente Patentverletzung geltend gemacht wird und der als patentverletzend angegriffene Gegenstand aus dem Stand der Technik bekannt oder nicht erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik ist und daher nicht in den Schutzbereich des Klagepatents fallen kann. Wenn die Merkmale des Klagepatents identisch, iSv wortsinngemäß, verwirklicht sind, ist diese Verteidigung nicht möglich. Bei einer identischen Verwirklichung sämtlicher Merkmale des Klagepatents würde die Verneinung einer Patentverletzung nämlich implizit die Patenterteilung in Frage stellen, was den Gerichten wegen des Trennungsprinzips untersagt ist. Die Verteidigung, dass der Feststellungsgegenstand näher am Stand der Technik als am Streitpatent liegt, wird in Deutschland nach einem Beschluss des Deutschen Bundesgerichtshof als Formsteineinwand bezeichnet. Auch das Österreichische Patentgesetz bekennt sich zum Trennungsprinzip. Das Handelsgericht Wien, welches alle Patentverletzungsfälle verhandelt, muss zunächst selbst die Wahrscheinlichkeit einer Nichtigkeit des Klagepatents beurteilen. Ist es der Meinung, dass die Nichtigkeit nicht wahrscheinlich ist, wird vom Rechtsbestand des Streitpatents ausgegangen und das Verletzungsverfahren fortgesetzt. Gibt es jedoch Anhaltspunkte für die Nichtigkeit des fraglichen Patents, wird das Verfahren ausgesetzt und dem Beklagten wird eine Frist zur Einreichung einer Nichtigkeitsklage beim Patentamt gesetzt. Wird das Handelsgericht über die Einleitung eines solchen Verfahrens beim Patentamt nicht innerhalb der gesetzten Frist informiert, wird der Nichtigkeitseinwand außer Acht gelassen und das Gericht setzt das Verletzungsverfahren fort. Gemäß dem Österreichischen Patentgesetz können Gerichte nicht über eine Feststellungsklage der Patentverletzung oder Nichtverletzung verhandeln. Für positive oder negative Feststellungsanträge betreffend eine Patentverletzung ist in erster Instanz das Österreichische Patentamt zuständig. Das Patentamt ist verpflichtet, bei der Beurteilung des Schutzbereiches des Patents, das Gegenstand des Feststellungsverfahrens ist, nicht nur den Inhalt der Erteilungsakten, sondern auch den von den Parteien nachgewiesenen Stand der Technik zu berücksichtigen. Zweite Instanz ist das OLG Wien. Das OLG Wien hat nun eine Berufungsentscheidung in einer negativen Feststellungsklage getroffen (34 R 146/15p). In diesem Fall erhob der Antragssteller (Kläger) den Formsteineinwand mit der Begründung, der Streitgegenstand wäre dem Stand der Technik, oder einer naheliegenden Ableitung davon, zu entnehmen und könne daher nicht verletzend gegenüber dem Streitpatent sein, da der Schutzbereich der Ansprüche sich nicht auf bereits Bekanntes erstrecken kann. Der Antragsgegner (Patentinhaber) argumentierte, dass die Merkmale des erteilten Patentanspruchs des Klagepatents identisch verwirklicht seien und deshalb die Anwendung des Formsteineinwands laut deutscher Textbücher und Rechtsprechung nicht rechtmäßig sei, und dass die negative Feststellungsklage abzulehnen sei, sollte der Antragssteller nicht rechtzeitig eine Nichtigkeitsklage einreichen. Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass gemäß Österreichischem Patentgesetz das Feststellungsverfahren vor dem Österreichischen Patentamt als Erteilungsbehörde und erste Instanz, welche auch erste Instanz in Nichtigkeitsverfahren ist, selbst beurteilt werde und dazu, wie gesetzlich vorgeschrieben, der gesamte vorgelegte Stand der Technik zu berücksichtigen sei. Daraus folgt, dass die Patenterteilung anders als nach der in Deutschland vertretenen Ansicht per se für Feststellungsanträge keine unumstößliche Bindungswirkung entfaltet, auch bei Berufung auf wortsinngemäße Verletzung, sodass das Feststellungsverfahren inter partes dazu führen kann, dass das Streitpatent als nichtig anzusehen ist. Diese Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen. In Patentverletzungsverfahren sind die Gerichte an das Trennungsprinzip gebunden, welches ein separates Nichtigkeitsverfahren vor dem Patentamt verlangt. In Form eines positiven oder negativen Feststellungantrags kann nach der vorliegenden Erkenntnis des OLG Wien vor dem ÖPA ein kombiniertes Nichtigkeits- und Feststellungsverfahren eingeleitet werden. Das macht einen derartigen Antrag weitaus attraktiver.