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Paradigmenwechsel bei der Beurteilung des erfinderischen Schritts im Gebrauchsmusterrecht

Seit Einführung des Gebrauchsmusterrechts im Jahr 1994 können technische Erfindungen über Patente oder Gebrauchsmuster geschützt werden. In den Materialien zum Gebrauchsmustergesetz (GMG) erläuterte der Gesetzgeber, dass die Anforderungen an die Erfindungsqualität von Gebrauchsmustern niedriger als für Patente angesetzt sein sollen.

Seither bemühten sich die österreichischen Patentbehörden und Gerichte um eine Definition des im GMG normierten erfinderischen Schritts zur Abgrenzung gegenüber dem im PatG normierten Nicht-Naheliegen. In der Entscheidung "Holzabdeckung" aus 2006 definierte der OGH eine Abgrenzung dahingehend vor, dass für das Vorliegen eines erfinderischen Schritt eine über fachmännische Routine hinausgehende Lösung genüge. Die vom OGH angewandte Definition des erfinderischen Schritts wurde aus der deutschen Literatur zur entsprechenden Bestimmung des deutschen Gebrauchsmustergesetzes übernommen. Zum Zeitpunkt der OGH-Entscheidung vollzog jedoch im Wesentlichen zeitgleich der deutsche Bundesgerichtshof bereits einen Paradigmenwechsel, mit welchem die vom OGH angewandte Definition verworfen wurde. In seiner Entscheidung "Demonstrationsschrank" gelangte der deutsche BGH zur Auffassung, dass für die Beurteilung des erfinderischen Schritts im Gebrauchsmusterrecht auf die im Patentrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden müsse. Demzufolge liefen die Kriterien für die Rechtsbeständigkeit von Gebrauchsmustern in Österreich und Deutschland auseinander. In der Literatur wurde daher schon längere Zeit gefordert, dass auch in der österreichischen Rechtsprechung der Gleichlauf der Erfindungsqualität im Patent- und Gebrauchsmusterrecht anerkannt werde.

In einer unlängst ergangenen Entscheidung änderte der Oberste Patent- und Markensenats (OPM) - unter Verweis auf die einschlägige Literatur - nun seine bisherige Spruchpraxis; demnach sind die Anforderungen an den erfinderischen Schritt im Gebrauchsmusterrecht nun auch in Österreich die gleichen wie im Patentrecht.

In seiner Begründung führte der OPM aus, dass durch die Übernahme des vom Europäischen Patentamt entwickelten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes die bisherigen Anforderungen an eine Erfindung im Patentrecht herabgesetzt wurden. Beim Aufgabe-Lösungs-Ansatz ist es zur Bejahung des Naheliegens eines Gegenstands erforderlich, dass der Fachmann konkrete Veranlassung hat, die Lehre aus zwei Vorhalten tatsächlich zu vereinigen (sog. "could-would-approach"). Hatte aber ein Fachmann tatsächlich Veranlassung, durch eine Zusammenschau von zwei bekannten Dokumenten zu der Lösung zu gelangen, ist nicht erkennbar, wie er eine über die fachmännische Routine hinausgehende Leistung erbringen kann. Der OPM kam daher zum Schluss, dass der in der österreichischen Rechtsprechung unternommene Versuch einer Abgrenzung zwischen einem erfinderischen Schritt und dem Nicht-Naheliegen einer Lösung gescheitert sei. Daraus folgt, dass ein erfinderischer Schritt im Sinne des Gebrauchsmustergesetzes als qualitatives Kriterium ebenso wie die erfinderische Tätigkeit das Auffinden einer nicht naheliegenden Lösung einer Aufgabe voraussetzt.

In Anbetracht dessen könnte nun die Sinnhaftigkeit von Gebrauchsmustern generell in Zweifel gezogen werden. Allerdings wird auch nach diesem Paradigmenwechsel dem Gebrauchsmusterrecht der Anwendungsbereich nicht entzogen. Ein wesentlicher Vorteil des Gebrauchsmusterschutzes gegenüber einem Patent ist insbesondere die 6-monatige Neuheitsschonfrist; zudem kann ein Gebrauchsmuster bei Bedarf binnen zwei Monaten registriert werden. Demnach stellt das Gebrauchsmuster für Produkte mit eher kurzer Lebensdauer die zweckmäßigste Schutzrechtsart dar. Weiters sieht das österreichische Gebrauchsmusterrecht die Möglichkeit zur Abzweigung eines Gebrauchsmusters aus einer anhängigen (österreichischen oder europäischen) Patentanmeldung vor - dies kann in Zeiten beträchtlicher Arbeitsrückstände beim Europäischen Patentamt für dringliche Streitverfahren von erheblicher Bedeutung sein. Gebrauchsmuster werden daher weiterhin als zweckmäßige Alternative oder Ergänzung zu Patenten von wesentlicher Bedeutung sein.

Dr. Rainer Beetz, LL.M.