SONN Patentanwälte – IP Attorneys

15. Juli 2008: Erste Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes in einem Überprüfungsverfahren nach Art. 112a EPÜ

Mit dem am 13. Dezember 2007 in Kraft getretenen EPÜ 2000 wurde erstmals die Möglichkeit eines Überprüfungsverfahrens geschaffen, mit denen Entscheidungen von Beschwerdekammern, die auf Basis von entscheidenden verfahrensrechtlichen Fehlern ergangen sind, von der Großen Beschwerdekammer ("GBK") korrigiert werden können (Art. 112a EPÜ).

Ein Antrag auf Überprüfung einer Entscheidung einer Beschwerdekammer kann allerdings nur auf spezielle Gründe gestützt werden, u.a. darauf, dass ein schwerwiegender Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 113 EPÜ) oder ein anderer erheblicher Verfahrensfehler (Nicht-Anberaumung einer beantragten mündlichen Verhandlung; Entscheidung erfolgte ohne Entscheidung über einen hierfür relevanten Antrag; R. 104 AO EPÜ) erfolgt ist oder die Entscheidung durch eine festgestellte Straftat maßgeblich beeinflusst wurde (R. 105 AO EPÜ).

Bis zum jetzigen Zeitpunkt liegen vier derartige Anträge vor, die allesamt Einspruchs-Beschwerdeverfahren betreffen (Beschwerdezeichen R1/08 bis R4/08). Diese sind nunmehr auch im Internet abrufbar. Nicht überraschend wurden alle Anträge darauf gestützt, dass das Recht auf rechtliches Gehör im Rahmen des Beschwerdeverfahrens verletzt wurde. In den Fällen R1/08 und R3/08 wurde der Antrag auch auf weitere erhebliche Verfahrensmängel gestützt.

Im Fall R 1/08 wurde vom Antragsteller ein Verstoß gegen das Recht auf Gehör darin gesehen, dass die Beschwerdekammer (und auch der Einsprechende) gegen den Hilfsantrag im Rahmen des schriftlichen Verfahrens keine Einwände vorgebracht hätten und dieser Hilfsantrag erst in der mündlichen Verhandlung (welcher der Einsprechende ferngeblieben ist) erörtert worden sei. Diese Erörterung habe jedoch nur darin bestanden, dass der Antragsteller die erfinderische Tätigkeit des Hilfsantrages verteidigt habe und daraufhin die Beschwerdekammer das Patent widerrufen hat. In der schriftlichen Entscheidung ist dann die erfinderische Tätigkeit des Hilfsantrages aus denselben Gründen wie beim Hauptantrag verneint worden ohne dass dies gesondert bzw. detailliert erörtert worden ist. Darin sah der Antragsteller auch einen wesentlichen Verfahrensmangel. Einen weiteren Verfahrensmangel erkannte der Antragsteller im Umstand, dass die Beschwerdekammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung weitere Argumente zu einem vorteilhaften Effekt der Erfindung nicht in Betracht gezogen habe, und dies damit begründet habe, dass der Gegner (der Einsprechende) nicht bei der mündlichen Verhandlung anwesend gewesen sei.

Im Fall R 2/08 hatte der (antragsstellende) Einsprechende mangelnde Neuheit des Streitpatents zwar im Einspruchsschriftsatz vorgebracht, jedoch keine Belege hierfür vorgelegt. Ein – nach Ansicht des Antragstellers – neuheitsschädliches Dokument wurde erst im Beschwerdeverfahren ausgewiesen, dieser Grund jedoch von der Beschwerdekammer als verspätet nicht akzeptiert. Hierzu hat die GBK in einer vorläufigen Stellungnahme den Antrag als "offensichtlich unbegründet" angesehen (weil das entsprechende – angeblich neuheitsschädliche – Dokument von der Beschwerdekammer in der Entscheidung bereits bei der erfinderischen Tätigkeit behandelt worden sei (die Beschwerdekammer war der Ansicht, dass dieses Dokument – in Kombination mit einem weiteren Dokument – das Streitpatent nicht nahelegt)) und den Antragsteller aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen.

Der Fall R 3/08 beruht auf der Ablehnung der Beschwerdekammer, im Rahmen der mündlichen Verhandlung einem Experten des Patentinhabers das Wort einzuräumen, um eine – nach Ansicht des Antragstellers wesentliche – Fehlinterpretationen der Erfindung durch die Kammer klarzustellen. Weiters sah der Antragsteller auch das Recht auf Gehör verletzt, weil sich die Beschwerdekammer geweigert hatte, die mündliche Verhandlung zu verschieben, weil der vom Antragsteller bevorzugte Vertreter diese nicht wahrnehmen konnte und die Verhandlung von dem mit dem schriftlichen Verfahren befassten Vertreter durchgeführt werden musste. Schließlich wurde auch in der Weigerung der Beschwerdekammer, einen Hilfsantrag des Antragstellers im Verfahren zuzulassen, ein wesentlicher Verfahrensmangel gesehen.

Die interessanteste Frage scheint jedoch im Fall R 4/08 zu beantworten zu sein. In diesem Verfahren wurde ein Anspruchsmerkmal, welches Art. 123(2) EPÜ zuwiderlief (dieses war nicht in der ursprünglichen Anmeldung geoffenbart), erst unmittelbar (1 Mo) vor der mündlichen Verhandlung durch ein Merkmal aus der Beschreibung ersetzt (mit einem 24-seitigem Schriftsatz, enthaltend 7 Anträge und ca. 6 cm Papier). Der Antragsteller (als Einsprechender) beantragte eine Verlegung der mündlichen Verhandlung, um die neuen Ansprüche ausreichend überprüfen zu können. Die Beschwerdekammer entsprach diesem Antrag nicht; während der Verhandlung sah sich der Antragsteller nicht imstande, über die materiellrechtliche Zulässigkeit der neu vorgelegten Ansprüche zu argumentieren, da zuwenig Zeit zur Überprüfung der neu eingereichten Unterlagen zur Verfügung gestanden sei.

In der nunmehr ergangenen ersten Entscheidung der GBK zum Fall R 1/08 stellte die Kammer zunächst die Natur des Überprüfungsverfahrens klar, welches eine außerordentliche Möglichkeit darstelle, klare Verfahrensmängel im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zu korrigieren, jedoch keine "dritte Instanz" sei, die sich mit materiellrechtlichen Fragen beschäftigen könne. Daher sei das Verfahren gemäß Art. 112a EPÜ äußerst strikt anzuwenden und ausschließlich auf die in Art. 112a EPÜ angeführten Gründe beschränkt.

So führte die GBK in der vorliegenden Entscheidung aus, dass im Falle des Einwandes hinsichtlich rechtlichem Gehörs der Antragsteller erstens klar zeigen müsse, dass eine zu überprüfende Entscheidung der Beschwerdekammer auf Gründen oder Beweisen beruht, die dem Antragsteller unbekannt waren und zweitens nachweisen muss, dass dieser Umstand so schwerwiegend war, dass er dazu geführt hat, dass er fundamental die Entscheidung beeinflusst hat.

Diese Voraussetzungen waren nach Ansicht der GBK im vorliegenden Fall nicht gegeben, im Gegenteil: hier hatte die Beschwerdekammer die Entscheidung auf Basis der Argumente im schriftlichen Verfahren entschieden. Daneben gäbe es keine Verpflichtung der Beschwerdekammern, bereits im Vorfeld der mündlichen Verhandlung einer Partei alle möglichen Argumente mitzuteilen. Es liege daher kein Verstoß gegen das rechtliche Gehör vor.

Zum Vorwurf hinsichtlich der Ablehnung der weiteren Argumente zu den erfinderischen Vorteilen analysierte die GBK, dass die entscheidende Beschwerdekammer diese Argumente nur "unter anderem" deshalb ablehnte, weil der Gegner nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hatte. Hauptgrund der Ablehnung sei allerdings die mangelnde Substantiierung dieser Argumente gewesen, daher liege auch hier kein wesentlicher Verfahrensmangel vor.

In Anbetracht dieser – ersten – Entscheidung zu den Überprüfungsverfahren ist davon auszugehen, dass die GBK dieses Instrument sehr eng und strikt anwenden wird, so dass nur in Ausnahmefällen, in denen ein evidenter Verfahrensverstoß seitens der Beschwerdekammern vorliegt, mit einer Revision der Entscheidung gerechnet werden kann. Die vorliegende Entscheidung gibt bereits eine klare Anleitung, wie Verstöße gegen das Recht auf Gehör zu belegen sind, so dass man annehmen kann, dass auch in den drei anderen, noch anhängigen Fällen nur geringe Erfolgschancen bestehen.

Daniel Alge, 21.7.08