SONN Patentanwälte – IP Attorneys

"Einmal täglich, vorm Schlafengehen..."

Mit der Entscheidung vom 22. April 2008 legte die Beschwerdekammer 3.3.02. der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes folgende Fragen vor:

"1. Wenn die Verwendung eines bestimmten Medikament zur Behandlung einer bestimmten Krankheit bereits bekannt ist, kann dieses bekannte Medikament nach den Bestimmungen der Artikel 53 (c) und 54 (5) EPÜ 2000 für den Einsatz in einer anderen, neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung der gleichen Krankheit patentiert werden?
2. Wenn die Antwort auf Frage 1 "Ja" ist, ist eine derartige Patentierung auch möglich, wenn das einzige neue Merkmal der Behandlung ein neues und erfinderisches Dosierungs-Regime ist?
3. Gelten besondere Erwägungen bei der Interpretation und Anwendung der Artikel 53 (c) und 54 (5) EPÜ 2000."

Der beanspruchte Gegenstand im Vorlagefall war abgestellt auf
"Die Verwendung von Nikotinsäure oder einer durch den Körper zu Nikotinsäure metabolisierbaren Verbindung [..] zur Herstellung eines Medikament mit verzögerter Freisetzung für den Einsatz in der Behandlung der Hyperlipidämie durch einmal tägliche orale Verabreichung vor dem Schlafengehen, [..]."

Der Stand der Technik für diesen Anspruch bestand in der Verwendung des gleichen Stoffes (Nikotinsäure) für die gleiche Indikation (Hyperlipidämie), jedoch ohne Hinweis auf die Anleitung, dieses Medikament "einmal täglich vor dem Schlafengehen" einzunehmen (im Stand der Technik war lediglich vorgesehen, Nikotinsäure - in einer Form mit verzögerter Freisetzung - zweimal täglich für die Behandlung von Hyperlipidämie einzusetzen). Unter Hyperlipidämie versteht man allgemein eine erhöhte oder veränderte Konzentration der Lipide und/oder Lipoproteine im Blut.

Die Wirkung der einmaligen Einnahme des Arzneimittels vor dem Schlafengehen ist, dass bekannte Nebenwirkungen (schwere Leber-Toxizität) verhindert werden können.

Im vorliegenden Fall war es unbestritten, dass im Stand der Technik die "einmal tägliche orale Verabreichung vor dem Schlafengehen" und die Lebertoxizität durch diese Art der Verabreichung beseitigt werden kann.

Mit den jetzt der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen soll geklärt werden, ob derartige Erfindungen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind, weil sie sich auf ein therapeutisches Verfahren als solches bezieht (das war die "alte" Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern), oder ob sie nicht unter diese Ausnahme fallen (aufgrund einer "neuen" Entscheidungspraxis, die durch die Entscheidung T 1020/03 etabliert wurde). In Österreich wird nach wie vor die "alte" Entscheidungspraxis angewandt; das Österreichische Patentamt zögert bislang, die Patentierbarkeit eines neuen und erfinderischen Anwendungs-Regime zu akzeptieren.

Die vorliegende Frage wird klären, ob Erfindungen, die ausschließlich auf der Grundlage einer solchen neuen und erfinderischen Anwendung basieren (bei welchen auch signifikante Investitionen zum Nachweis für die Wirksamkeit in klinischen Studien, i.e. der Nachweis der erfinderischen Tätigkeit, getätigt werden müssen, die aber auch dazu missbraucht werden könnten, um den Patentschutz für Original-Arzneimittel künstlich zu verlängern), prinzipiell eine entsprechende Belohnung durch das Patent-System erhalten können oder nicht. Es erübrigt sich zu sagen, dass speziell zu diesen Fragen, an denen eine Menge Geld hängt (sowohl in der Entwicklung als auch auf dem Markt), es zwei Seiten mit entgegengesetzten Interessen gibt: die Pharma-Unternehmen, die neue Medikamente und neue Anwendungs-Regimes entwickeln, auf der einen Seite und die Generika-Industrie (und Regierungen, die billigere Medikamente wollen) auf der anderen Seite. Es ist zu hoffen, dass die Große Beschwerdekammer zu einer Entscheidung kommt, die die Situation ausreichend klärt und eine angemessene Belohnung für echte Innovationen sicherstellt, gleichzeitig aber auch einen Missbrauch des Patentsystems verhindert.

Daniel Alge